Liebe und Kunst-Wollen als Bollwerk gegen die biopolitische Isolation?


25.02.23
Heute Abend wird es in Ulm ein klassisches Benefizkonzert zu Gunsten der Betroffenen des Russland-Ukraine-Konflikts unter dem Titel “Zuversicht” geben. Von 28.-30.10.22 war die wohl bisher größte interaktive Veranstaltung mit dem Ukraine-Festival, wo es Kunst von Ukrainern und Ukrainerinnen, Musik und auch Lesungen, allen voran von der in Wien lebenden Ukrainerin Tanja Malyartschuk. Ein Jahr nach den vom Präsidenten der russländischen Föderation fast zeitgleich scharf konturierten Kommunique zur Anerkennung der Separatistengebiete Donec und Luhansk und dem Überraschungsangriff der an der Grenze zur Ukraine aufmarschierten russländischen Föderationstruppen aus vier Richtungen, war am 24.02.23 im Gleis 44 Decadance. Eine Tanzveranstaltung mit sprachspielerischem Namen. Decadence im nietzscheschen Sinne, als Auflösung tradierter Beziehungs- und Sinngebungsmuster möchte ich in diesem Bericht von kulturrevolutionären Tendenzen als positive Grundgemeinsamkeit moderner Zeitgenossen auf allen Seiten der Auseinandersetzung benutzen.

Underground, Musik und Zivilcourage

Charki(o)w.25.02.22
Serghi Zadan, der gerade noch in einer Vorlesung in der ukrainischen Bildungsmetropole war bekommt von seinem Prof. eine russische Pistole in die Hand gedrückt. Der Professor wird in der 2. Verteidigungswelle der ukrainischen Territorialverteidigung uns leben kommen. Sergi Zhadan, so Thomas Kinne in seiner Einführung, hat keinen Schuss aus der Pistole abgegeben. Bekannt wird er als Sänger in den Luftschutzkellern, seiner Stadt, die er Charkiw nennt. Er hat bei der Rettung von Freunden als sein Auto von russischen Invasoren beschossen wurde einen Finger verloren. Ich habe Sergi, ohne seine Geschichte zu kennen bei den Proben zu “Bella Ciao” singen hören.Kein Wunder schreibe ich den Bericht vom Oktober 22 erst Monate später, denn Abgrenzung oder gar multiperspektivistische Berichterstattung wurden an diesem erinnerungs- und denkwürdigen Abend jäh und taumelnd in das hineingemischt, was Nietzsche das Dionysische zu nennen pflegte.

Die Geburt der Nation aus dem Geiste der Musik?

Kinne umschreibt Zhadan in seiner Eröffnungsrede des Festivals wie folgt:
“Zhadan hat keinen Schuss aus der Pistole abgegeben und doch die Freiheit der Ukraine mit Geist und Literatur als Waffe verteidigt. Er hatte Gedichte in Luftschutzkellern gelesen und mit Bedrohten und Verängstigten, sich auch die eigene Angst vom Leibe gesungen und mit seiner Rockband die Moral in den Undergroundstationen von Charkiw aufrechterhalten, so dass er jetzt schon Kult ist…” Eigentlich sollte das Ukraine-Festival ein panslawisches internationales Festival werden, mit Untergrund-DJ’s aus Prag, Moskau und St.Petersburg. Auf meine Frage, warum er nicht “grad zom Bossa” Leute quer der künstlichen und realen Diskurs- und Territorialgrenzen eingeladen habe meint Kinne, die Wunden seien dafür noch zu frisch. Es ist die Zeit in der der ukrainische Stern durch das Zum-Stehen-Bringen der russländischen Offensive in und um Kiew wieder aufzusteigen gelernt hat. Männer wie die Klitschkos in Kiew und Wolodymyr Selensky werden im Spiegel zu den Unbeugsamen stilisiert.
Gesänge der Menschheit. Hymnen der Schlacht

Jetzt singen sie die ukrainische Nationalhymne und das vorher gefühlte Gefühl der Immersion verstärkt sich, ohne bedeutsame Worte zu einem Schmelztiegel aus Tränen, Lust, Sehnsucht und alles durchwärmendem roten Bühnenlicht. Wie ein Mann antworten die über 50, meist ukrainisch- oder russischstämmigen des Beseelungskollektives, wo sonst der decadence-Dancefloor ist, die Skandierung: Slava ukraina! Nach dem volksverstärkten Echo: Slava ukraina, sagt Sergi: Heroem Slava. Eine geradezu vergemeinschaftende Stille setzt ein.Blicke treffen sich, Augen zwischen lachen und flennen, ich renne raus. Wo ich Lys treffe, die lebensfreudige Mitzwanzigerin ist sichtlich nicht aus der Ukraine, vielmehr vermag unser Kennenenlernen die gewaltige Überspanntheit der Atmo in etwas erotisch-spielerisches zu übersetzen. Wie gerufen kommen da die Interviewer von Donau 3 FM. Es bleibt uns jetzt wo wir in dieses Dionysische hineingezogen worden sind nichts anderes als unsere ebenso bedrohte Kultur des Liberalen Nonkonformismus zu verteidigen. Wir tanzen, überflirten abgesteckte Grenzen provozieren uns. Sie haut all ihre Munni raus um den Kapitalismus zu feiern, ich votiere wie Cattilina für den Kommunismus jenseits von Staat und Geld. Sie aber verliert sich im Getümmel als ich mich weigere ihr ein Getränk zu zahlen. Russen und Ukrainer wurden dem Nationalmythos Russlands nach am Dnepr getauft. Dem Fluss an dem mit dem Donbass zusammen das größte Industriegebiet der Ukraine in einer steinkohlereichen Region ersteht.
Die Subkultur von heute, die Hochkultur von morgen

Ich habe einen Hass auf Lys, in den Boxen dröhnt nun Techno aus Kiew. In mir halt ihr: “el pueblo pertenece unido”. Und ich besinne mich auf den “besonderen Schneis” den die Dürstende mir zugesprochen hatte. Eine waschechte Panamena mit Doppelvor und Doppelnachnamen. Und ich ein geiziger Schwob.Jetzt muss ich tanzen, auch rezitiere ich Rilkes erstes Sonnett an Orpheus: ” Es steigt ein Baum, oh reine Übersteigung….Winke, Drehungen Paartänze die sich auf das Weite wieder öffnen und dann kommt der Klassiker. Beim Firestarter von the Prodigy hat wohl Slava Ruzhynski die Finger am Pult. Ich begegne Sascha und Irina im wortlosen Reigen verstärkt vom mitgebrüllten Refrain. Ein Metal-Pärchen aus Mariupol. Draußen reden wir. Irina zeigt mir wieder und wieder dieses Bilder von anonymen Kreuzen über ukrainischen Nekropolen.Irgendwie ist meine Radikalität ihr ein Anker zum Schluss muss der harte Sascha sie von mir wegreißen. Der Vater aller Dinge ist der Krieg. Denke ich.Transformationsraum schießt es mir wie eine Leuchtreklame aus dem Hotel California durch den glühenden Brägen.

Sergi meint auch dass es keinen Frieden ohne Gerechtigkeit gebe, ohne die Freiheit des ukrainischen Volkes, der ukrainischen Sprache und des ukrainischen Geistes.Ich fühle ihn, jetzt wo ich mich dessen erinnere wieder und ich schaue mit einer kämpferischen Zuversicht auf die neuen Flüchtlingscontainer.Aus Damaszenern sind Freunde geworden, bevor sie wieder zu Arbeitern und Privilegierten mutierten. Warum die Liebe den Idioten überlassen…


(Farounfirewater, 25.02.23 auf dem Weg in den Keller)